Narcisse Bousquet (1820–1869)
Air Varié sur Malborough
für Blockflöte in f und Klavier
Herausgegeben von Michel QuagliozziGirolamo G 12.052, Partitur und 1 Stimme, € 18,00
ISMN 979-0-50084-084-8
VorwortZeitgenössische Zeitungskritiken bezeichnen Joseph Narcisse Bousquet (geb. 31.01.1820 in Straßburg, gest. 20.08.1869 in Paris) als „den besten Flageoletspieler in Paris“. Bekannt war er aber nicht nur als brillanter Virtuose auf seinem Instrument, sondern auch als produktiver Komponist von Tanzmusik, als Dirigent, arbeitsamer Verleger und gefragter Pädagoge. In eine Familie von professionellen Musikern hineingeboren, zog er gegen 1841 nach Paris, wo er möglicherweise das Gymnase musical militaire besuchte, eine Schule, die völlig unabhängig vom Konservatorium war und ausschließlich dem Zweck der Wiederbelebung der zeremoniellen Militärmusik diente.
Bousquets Name ist ab 1850 eng mit Tanzorchestern verbunden, deren Konzerte damals zu den wichtigsten Vergnügungen der Pariser Bevölkerung gehörten. Schon bald wurde Bousquet Assistent des gefeierten Dirigenten Pierre Pilodo beim Bal Mabille und erhielt 1854 den Chefposten als Dirigent des angesehenen Tanzorchesters im Ranelagh in den Gärten von Passy. Später dirigierte er auch regelmäßig im Jardin d’hiver, in der Salle Barthélémy und im Elysée-Montmartre, ohne dabei seine Karriere als Solist und seine Arbeit als Pädagoge und Verleger zu vernachlässigen.
Der unermüdliche Bousquet starb unerwartet am 20. August 1869 im Alter von nur 49 Jahren in seiner Wohnung in der Rue d’Aboukir 125, wo sich neben der privaten Wohnung auch sein Verlag befand. Die Presse kommentierte seinen Tod einhellig mit großem Bedauern. Doch trotz der großen Anerkennung, die Bousquet zu Lebzeiten zuteilwurde, löschte der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 die Erinnerung an diesen Musiker bis hin zum völligen Vergessen aus.
Das Flageolet, das am Ende des 18. Jahrhunderts eine nie dagewesene Popularität bei den Tanzmeistern und in den französischen Tanzorchestern erlebte, beschrieben Marin Mersenne und Pierre Trichet bereits im 17. Jahrhundert. Da Herkunft und Bauweise nur wenig gemeinsam haben, sollte jedoch klar zwischen dem französischen Flageolet und dem englischen patent flageolet unterschieden werden. Das von Bousquet verwendete französische Flageolet war ein direkter Nachfahre des von Mersenne beschriebenen Instruments mit vier Grifflöchern auf der Vorderseite und zwei Daumenlöchern auf der Rückseite. Nach und nach wurden – bis hin zur Übernahme des Boehm-Systems – Klappen hinzugefügt, um den Tonumfang auf zwei chromatische Oktaven zu erweitern, die Intonation zu verbessern und die Lautstärke so zu erhöhen, dass das Flageolet im romantischen Orchester bestehen konnte. Dank großartiger Künstler wie Eugène Roy, Edmé und Hubert Collinet, Louis Jullien und Philippe Musard wurde dieses kleine Instrument in G (entsprechend etwa dem Tonumfang der Sopraninoblockflöte) in Frankreich alsbald zum unentbehrlichen Bestandteil der Unterhaltungsorchester während des gesamten 19. Jahrhunderts.
Das Volkslied Malbrough s’en va-t-en guerre gehört zu den alten Vaudevilles, deren Ursprung ungewiss ist. Sein satirischer Text behandelt den Tod von John Churchill, 1. Graf von Marlborough, im Jahre 1722. Dieser war während des spanischen Erbfolgekriegs siegreicher Gegner Ludwigs XIV. Die Gründe, warum sich dieses Lied ab 1783 plötzlich so großer Beliebtheit erfreute, sind nicht mehr zu klären. In den folgenden Jahrzehnten wurde es überaus populär. Erzählt wird, dass Napoleon es jedesmal summte, wenn er das Schlachtfeld betrat. Außerdem verwendete es Beethoven in Wellingtons Sieg (Op. 91, 1813), um das französische Lager zu charakterisieren. Wir wissen nicht, was Bousquet zur Verwendung dieser Melodie in seinem Werk inspirierte, doch waren es möglicherweise die berühmten Variationen für Violine und Klavier, die Adolphe Herman 1856 über die gleiche Melodie komponierte.1 Dieses Stück mit seinem närrischen Charakter und einer überbordenden Virtuosität erlebte vom Tag seiner Veröffentlichung an einen überwältigenden Erfolg. Bereits im folgenden Jahr, nämlich am 4. und 5. Juli 1857, führte Bousquet laut Zeitungsberichten erstmals eine von ihm komponierte Air varié im Concert Musard auf. Neben Hermans Variationen mag die erfolgreiche Operette Le Page de Malborough von Frédéric Barbier, die 1858 für die Folies-Nouvelles komponiert wurde, eine weitere mögliche Quelle der Inspiration gewesen sein. Bousquet kannte die Kompositionen von Herman und Barbier gut, hatte er doch einige Arrangements von ihnen veröffentlicht. Was aber auch immer der Ursprung gewesen sein mag, der verspielte Charakter von Bousquets Variationen entlehnt sich offensichtlich der fröhlichen Welt der Narren und erfordert eine abwechslungsreiche Interpretation durch die Musiker.
Bei dem auf der Titelseite des Orginaldrucks genannten Widmungsträger Monsieur Noury handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Charles Noury (16.08.1800–19.02.1877). Dieser war Hornist, Cornettist und Musiklehrer am Gymnasium und an der Musikakademie von Douai.
Bousquets Air varié sur Malborough wurde in zwei Teilen veröffentlicht. 1860 erschienen zunächst die Solostimmen für Flageolet oder Flöte bzw. Cornet à Piston und die Klavierbegleitung. Zwei Jahre später waren zusätzlich als Begleitung der Solostimme ein komplettes Stimmenset für großes Orchester sowie eine heute verlorene Version für Septett erhältlich. Dass Bousquets Musik aber überhaupt überliefert ist, verdanken wir dem Umstand, dass jeder Musikverleger gesetzlich verpflichtet war, ein Exemplar jedes Druckes der kaiserlichen Bibliothek und der Bibliothek des Konservatoriums in Paris zu überlassen. Diese Drucke befinden sich heute allesamt in der Musikabteilung der französischen Nationalbibliothek in Paris.
Als Vorlage für diese Ausgabe diente das Exemplar mit der Nummer VM9-1492, das aus der Solostimme für Flageolet und dem Klavierpart besteht, der ebenfalls die Flageoletstimme wiedergibt. Der Vergleich zeigt verschiedene kleinere und wenige größere Abweichungen zwischen der separaten Solostimme und der Flageoletstimme in der Klavierpartitur. Diese Klavierpartitur diente als Basis dieser Ausgabe, da sie beinahe fehlerfrei ist. In der separaten Solostimme zusätzlich enthaltene Artikulationszeichen wurden übernommen. Anhand von Parallelstellen und durch eigene Erfahrung kann der Interpret problemlos fehlende Artikulationszeichen ergänzen. Bousquet selbst scheint dies den Spielern seiner Werke zugetraut zu haben, zumal sich dergleichen „Nachlässigkeiten“ durch alle seine Editionen ziehen. Er zählte auf die Erfahrung und die Musikalität der Interpreten und verzichtete auf die letzte Genauigkeit in der Notation und somit auf eine Überladenheit des Notenbildes.
Zur Klärung fraglicher Stellen wurde auch die Orchesterversion (VM7-10562) zu Rate gezogen. Es scheint offensichtlich, dass das Werk zunächst für Flageolet und Orchester komponiert wurde. Dennoch kann man die Bearbeitung für Klavier nicht lediglich als simplen Klavierauszug betrachten, sondern gut und gerne als eigenständige Fassung, der Bousquet besondere Sorgfalt hat zuteilwerden lassen. Wir haben die Air varié sur Malborough einen Ganzton abwärts von D-Dur nach C-Dur transponiert, um sie dem Umfang der Sopranino- oder Altblockflöte anzupassen. Der Revisionsbericht gibt Aufschluss über vorgenommene notwendige Änderungen.
Michel Quagliozzi, Nizza im Mai 2022
1 Adolphe Herman: Malborough. Carnaval de Paris. Variations originales pour le violon, avec accompagnement de piano … Op. 27. Paris: Benacci-Peschier, [1856]